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32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

El Hombre Muerto (Der tote Mann)
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
04.05.05     A+ | a-
div style="text-align: justify;"> Der Mann hatte mit seiner Machete gerade die fünfte Reihe  seiner Bananenpflanzung gesäubert. Zwei weitere Reihen fehlten noch; da diese aber nur mit Chircas und Malven bewachsen waren, war die ausstehende Arbeit leicht zu bewältigen. Der Mann warf daher einen zufriedenen Blick auf die Haufen gerodeter Sträucher und wollte nun auf die andere Seite des Zauns wechseln, um sich eine Weile im Gras auszustrecken. Aber als er den Stacheldraht niederdrückte, um seinen Körper durchzuzwängen, rutschte er mit dem linken Fuß auf einem glatten Stück Holz aus, das sich vom Zaunpfosten gelöst hatte, und gleichzeitig glitt ihm die Machete aus der Hand. Im Fallen hatte der Mann den unbestimmten Eindruck, seine Machete nicht auf dem Boden liegen zu sehen.

Nun lag er ausgestreckt im Gras, auf seiner rechten Körperseite, wie immer wenn er sich ausruhte. Sein Mund, der sich ihm in ganzer Breite jäh geöffnet hatte, war wieder geschlossen. Er befand sich in genau der Lage, die er für ein bequemes Ausruhen gewünscht hatte, mit angewinkelten Knien, seine linke Hand an der Brust. Nur dass hinter dem Unterarm, direkt unter dem Gürtel, aus dem Hemd der Knauf und die halbe Klinge seiner Machete ragten  -  der Rest aber nicht sichtbar war.

Der Mann versuchte vergeblich, seinen Kopf zu bewegen. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Griff der Machete, der noch feucht war vom Schweiß seiner Hand. Er schätzte die Ausdehnung und den Verlauf der Machete in seinem Bauch ab, und gelangte  -  kühl, mathematisch und unerbittlich  -  zu der Überzeugung, dass er soeben an das Ende seiner Existenz gelangt war.

Der Tod. Im Verlaufe des Lebens denken wir oft darüber nach, wie wir  eines Tages, nach Jahren, Monaten, Wochen und Tagen der Vorbereitung,  an der Reihe sind,  die Schwelle des Todes zu überschreiten. Es ist wie ein von uns vorgedachtes und angenommenes Gesetz des Schicksals; unsere Vorstellungskraft nimmt uns fast wohlig mit in diesen Moment, den größten von allen, in dem wir unseren letzten Atemzug tun.

Aber zwischen einem solchen Augenblick des Todesgedenkens und dem endgültigen Moment des Erlöschens  -  welche Träume, Verwirrungen, Hoffnungen und Dramen gehen ihm in unserem Leben voraus! Was hält diese Existenz, solange sie dauert, nicht noch alles für uns bereit  -   vor ihrem Verschwinden von der menschlichen Bühne! Es ist dies Anlass, Trost und Vergnügen unseres Geredes über den Tod: So weit weg noch ist das Ende, so unvorhersehbar das, was wir noch zu leben haben! Noch ...?   Es sind nicht einmal zwei Sekunden vergangen: Die Sonne befindet sich noch auf dem gleichen Stand, die Schatten haben sich nicht einen Millimeter weiter bewegt. Aber für den dort hingestreckten Mann haben sich all seine auf eine lange Zeitspanne hin gehaltenen Reden jäh erübrigt: Er ist im Begriff zu sterben! Tot. Er kann sich, in seiner bequemen Lage, als tot betrachten.

Aber der Mann öffnet die Augen und schaut. Wie viel Zeit ist vergangen? Welche Katastrophen bestehen weiterhin in der Welt? Drückt sich ein Grauen der Natur aus in diesem schrecklichen Ereignis? Er wird sterben. Schicksalhaft und unausweichlich wird er sterben. Der Mann wehrt sich – dieser Schrecken kommt so unverhofft! – und er denkt: Das ist nur ein Alptraum, ja, das wird es sein! Was hat sich denn geändert?!  Nichts. Und er blickt um sich: Ist da nicht etwa seine Bananenpflanzung? Kommt er nicht jeden Morgen, um darin zu arbeiten? Wer kennt sie so wie er? Deutlich  stehen die Stauden vor seinen Augen, sehr gelichtet, die breiten Blätter nackt in der Sonne. Ja, da sind sie doch, ganz nah, zerfasert vom Wind. Aber sie bewegen sich jetzt nicht ....Es herrscht mittägliche Stille, zwölf muss es bald sein. Zwischen den Bananen, weiter oben, kann der Mann, gegen den harten Himmel abgehoben, das rote Dach seines Hauses ausmachen,zur Linken den Urwald und einige wilde Zimtpflanzen.

Mehr kann er nicht sehen, aber er weiß genau, dass sich hinter ihm der Weg zum neuen Hafen befindet; und dass in Verlängerung seines Kopfes, dort unten, der Paraná ruht, stumm wie ein See inmitten des Flusstales.

Alles, alles ist genau so wie immer, die Sonne aus Feuer, die flimmernde Luft, die unbeweglichen Bananenstauden, der Zaun mit den schweren und hohen Pfählen, die er bald auswechseln will. Tot! Aber wie kann das denn sein?! Ist heute nicht nur ein weiterer der vielen Tage, an denen er im Morgengrauen, mit seiner Machete in der Hand, sein Haus verließ? Befindet nicht genau er sich dort, die Machete fest im Griff? Steht da nicht etwa, nur vier Meter von ihm entfernt, sein Pferd, der treue Begleiter, und schnuppert, sehr vorsichtig, am Stacheldraht?

Aber ja! Und da pfeift auch jemand. Er sieht nichts, weil er mit dem Rücken zum Weg liegt, aber er fühlt die Resonanz von Huftritten in den Schulterblättern ... Das ist der Junge, der jeden Morgen auf dem Weg zum neuen Hafen vorbei reitet, um halb zwölf. Immer pfeifend. Vom Zaunpfosten, den er fast mit den Stiefeln berührt, bis zur lebendigen Mauer des Urwaldes, welche die Bananenpflanzung vom Weg trennt, sind es fünfzehn endlose Meter. Er weiß das sehr genau, er hat selber beim Bau des Zaunes die Distanz ausgemessen. Was also geschieht eigentlich genau? Ist das  -   oder etwa nicht  - eine der normalen mittäglichen Stunden von so vielen in Misiones, in seinem Wald, seinem Acker, seiner Bananenlichtung? Aber natürlich! Kurzes Gras, Ameisenhügel, Schweigen, bleierne Sonne ....

Nichts, gar nichts hat sich verändert. Nur er ist anders. Seit zwei Minuten hat seine Person, sein lebendiges Selbst, nichts mehr zu tun mit diesem Acker, den er allein mit der Hacke bearbeitet hat, über lange fünf Monate, noch mit der Bananenpflanzung, ebenfalls von ihm allein geschaffen, und auch nichts mehr mit seiner Familie.Er ist urplötzlich, und auf eine ganz natürliche Weise, aufgrund eines glatten Stück Holz und einer Machete im Leib, aus allem heraus gerissen. Zwei Minuten ist es her, und er liegt im Sterben. Der Mann, zu Tode erschöpft und auf seiner rechten Körperseite im Gras ausgestreckt, will ein Geschehen von diesem ungeheuerlichen Ausmaß immer noch nicht wahrhaben, angesichts des gewohnten und eintönigen Aussehens all dessen, was er um sich herum sieht.

Er weiß ja auch die Uhrzeit genau: Halb zwölf .... Der Junge, der jeden Tag vorbeikommt, reitet gerade über die Brücke. Aber es kann doch gar nicht sein, dass er gestrauchelt ist ...! Den Griff seiner Machete (den er bald würde auswechseln müssen, er hat nicht mehr genug Umfang) hatte er doch sicher umklammert zwischen linker Hand und Stacheldraht. Nach zehn Jahren im Urwald weiß er doch sehr gut, wie man eine Waldmachete handhabt. Er ist eben nur sehr müde von der morgendlichen Arbeit und ruht sich wie gewöhnlich ein wenig aus.

Und der Beweis, dass es sich so verhält ....? Aber er selbst hat doch dieses Futtergras, das jetzt in seine Mundwinkel eindringt, in Reihen im Abstand von einem Meter gepflanzt! Und das sind doch seine Bananen, und es ist ja sein Gaul, der da mit vorsichtig geblähten Nüstern am Zaun steht. Ganz genau sieht er ihn, er weiß, dass das Tier sich nicht entfernen wird, während er sich ausruht. Der Mann am Boden erkennt alles ganz klar, sieht die dunklen Fäden aus Schweiß an Widerrist und Hinterbacken des Tieres herabrinnen. Die Sonne fällt wie Blei vom Himmel, es herrscht große Ruhe, nicht eine Blattfranse bewegt sich bei den Bananen. Jeden Tag, wie auch heute, hat er dieselben Dinge gesehen. So furchtbar müde ist er, aber er ruht ja aus, ganz allein.

Mehrere Minuten müssen vergangen sein, um viertel vor zwölf werden seine Frau und die beiden Kinder  vom Haus zum Bananenhain laufen, um ihn zum Essen zu rufen. Als erste hört er immer die Stimme seines Jüngsten, der sich von der Hand der Mutter löst und ihn ruft:“ Piapiá, Papa, Piapiá ...“ Ist sie es nicht? Natürlich, er hört sie, es ist ja auch Zeit. Er hört tatsächlich die Stimme seines Jungen. Was für ein Grauen ...! Doch es ist ein ganz gewöhnlicher Tag, einer von so vielen, was denn auch sonst! Unbarmherziges Licht, gelbliche Schatten, auf dem Fleisch stille, brennende Hitze, wie von einem Ofen, die auch seinen unbeweglich vor dem verbotenen Bananenhain aushaltenden Gaul schwitzen lässt.

.... Sehr müde, natürlich, weiter nichts. Wie oft ist er um die Mittagszeit zu seinem Haus gelaufen, über diese Weide, Wildnis noch,  als er kam, und noch früher jungfräulicher Wald. So kehrte er immer heim, mit seiner an der linken Hand herabhängenden Machete, langsamen Schrittes und ebenfalls sehr müde. Wenn er es möchte, kann er sich noch mit dem Verstand entfernen, er kann, wenn er will, einen Moment seinen Körper verlassen, zu dem von ihm angelegten Wasserteich gehen und von dort die ewige triviale Landschaft anschauen: das steinige Land mit den harten Gräsern, die Bananenpflanzung mit ihrer roten Erde, der am Abhang niedriger werdende Drahtzaun, der dann am Weg entlang verläuft.

Noch weiter hinten die Weide, auch sie von eigener Hand angelegt. Und am Fuß eines glatten Zaunpfostens, hingestreckt auf die rechte Seite, mit angezogenen Beinen, genau so wie jeden Tag, kann er sich selber sehen, ein kleines Bündel auf dem Gras,  der Sonne ausgesetzt  -  ausruhend von übergroßer Müdigkeit. Aber auch der immer noch still am Zaun verharrende, mit Streifen von Schweiß überzogene Gaul nimmt den Mann am Boden wahr, wagt aber, noch nicht, in die Bananen zu gehen, wie er es gern tun würde. Angesichts der Stimmen, die näher kommen  -  Piapiá  -  hält er eine lange Weile die bewegungslosen Ohren auf das Bündel hin gerichtet: Endlich beruhigt, entschließt er sich, zwischen dem Pfosten und dem nun in vollständiger Ruhe ausgestreckten Mann hindurch zu gehen.  

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